So leicht lassen sich Gehirne hacken

Das Gedächtnis gilt als Bestandteil unserer Persönlichkeit. Doch dabei ist es längst nicht so verlässlich wie viele glauben: Es lässt sich manipulieren.
So leicht lassen sich Gehirne hacken
Ist das nun meine Erinnerung oder kenne ich das nur aus Erzählungen? (Foto: Josh Hild on Unsplash)

Im normalen Leben können diese falsche Erinnerungen für Verwirrung sorgen, vor Gericht sogar über Schuld und Unschuld entscheiden. Die Vorgabe der Forscher an die Studienteilnehmer war eindeutig: Sie sollten ihre früheste Erinnerung abrufen - und ganz sicher sein, dies auch wirklich erlebt zu haben.

Als Antwort berichteten manche Menschen aus ihrer Schulzeit, andere beschrieben ein Spielzeug oder nannten die Geburt eines Geschwisters. Bei etlichen Teilnehmern reichte die Erinnerung besonders weit zurück: Sie gaben an, dass sie in der Wiege lagen, wie ihnen eine Windel gewechselt wurde oder wie sie ihre ersten Schritte machten.

Die Analyse der insgesamt 6641 Berichte verblüffte das Team um die Psychologin Shazia Akhtar von der City University London. Denn insgesamt 2487 Teilnehmer - fast 40 Prozent - nannten eine Begebenheit aus den ersten beiden Lebensjahren, 893 davon sogar aus dem ersten Jahr, wie die Forscher im Fachblatt "Psychological Science" berichten.

Das Problem: Erinnerungen sollen sich erst etwa ab dem Alter von 3,5 Jahren abrufen lassen. Der Grund ist simpel: Vorher ist das Gehirn - insbesondere der für das Langzeitgedächtnis wichtige Hippocampus - noch nicht dafür ausgebildet, Erinnerungen dauerhaft abzuspeichern. Psychologen sprechen von infantiler Amnesie.

Die Forscher erklären die "fiktiven Erinnerungen" vieler Probanden damit, dass sich Fragmente tatsächlicher - späterer - Erinnerungen etwa mit Fotos oder Geschichten, die in der Familie zirkulierten, verknüpft hätten.

"Diese Erinnerung kann daraus resultiert haben, dass jemand etwas sagt wie 'Mutter hatte einen grossen grünen Kinderwagen'", erläutert Co-Autor Martin Conway. "Die Person stellt sich dann vor, wie der ausgesehen hätte. Mit der Zeit werden diese Fragmente zu einer Erinnerung, und oft beginnt die Person dann, Details hinzuzufügen, etwa eine daran aufgehängte Kette von Spielzeugen."

"Man internalisiert, was man vielleicht von den Eltern gehört hat", erläutert der Psychologe Hans Joachim Markowitsch von der Universität Bielefeld, der nicht an der Arbeit beteiligt war. "Später kann man dann oft nicht mehr auseinanderhalten, was nacherzählt ist und was authentisch."

Dass Menschen sich an Dinge erinnern können, die sie nie erlebt haben, ist nicht neu. Überraschend ist jedoch, wie gängig das ist. Noch erstaunlicher ist, dass man Menschen solche falschen Erinnerungen regelrecht einpflanzen kann.

"Ich bin eine Gedächtnis-Hackerin"

Wie leicht diese Manipulation ist, beschreibt die deutsch-kanadische Psychologin Julia Shaw, die in London forscht. "Ich bin eine Gedächtnis-Hackerin", bekennt sie in ihrem Buch "Das trügerische Gedächtnis".

"Ich bringe Menschen dazu, Dinge zu glauben, die nie geschehen sind." In einer Studie in Kanada überzeugte sie Teilnehmer davon, sie hätten in ihrer Jugend eine Straftat wie etwa einen Diebstahl oder einen tätlichen Angriff begangen und seien mit der Polizei in Konflikt geraten.

Um die "Erinnerung" einzupflanzen, konfrontierte sie die Teilnehmer, aus deren Leben sie viele Details in Erfahrung gebracht hatte, unter anderem zunächst mit einem Bericht ihrer Eltern von dem angeblichen Vorfall und bat sie dann, das Ereignis zu visualisieren.

Nach drei solchen Sitzungen hatte sie 70 Prozent der Teilnehmer überzeugt. Und viele gaben nicht nur die gehörte Episode wider, sondern schmückten sie noch mit zusätzlichen Details aus.

"Das Gedächtnis funktioniert ein bisschen wie Wikipedia", sagt die US-Psychologin Elizabeth Loftus, die Pionierin bei der Erforschung falscher Erinnerungen. "Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch."

Diese Formbarkeit ist umso erstaunlicher, als das Erinnerungsvermögen als zentraler Teil der Persönlichkeit gilt. "Erst das Gedächtnis stattet uns mit einer individuellen Persönlichkeit und mit einer Ich-Perspektive aus und lässt uns dadurch zu kulturellen Wesen werden", schreibt der Neurobiologe Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig im Buch "Wir sind Gedächtnis". "Anders gesagt: Wir Menschen sind unser Gedächtnis - und unser Gedächtnis sind wir."

Wie prägen sich Ereignisse überhaupt ein?

"Der Gedächtnisprozess ist relativ kompliziert", sagt Christof Kuhbandner von der Universität Regensburg. "Die einströmenden Reize durchlaufen verschiedene Verarbeitungsebenen im Gehirn - von der Wahrnehmung bis zur rationalen Bewertung.

Aus einströmenden Reizen werden Erinnerungsepisoden, die man irgendwann autobiografisch abspeichert auf der Zeitlinie des Lebens." Doch die gespeicherten Informationen bleiben im Gedächtnis nicht konserviert, sondern sie werden weiter verändert - etwa Lücken ausgefüllt.

Bei jedem Abrufen kann das Ereignis in einen neuen Kontext gerückt, verzerrt und mit neuen Details versehen werden. Insgesamt, so zeigen Studien, speichern wir besonders viele Erinnerungen zwischen dem Alter von 15 und 25 Jahren ab.

"In diese Phase fallen die grössten Umbrüche im Leben - die Jugend, das selbstständige Leben, die Partnerschaft, Studium oder Berufsanfang", sagt Markowitsch. Und ältere Menschen scheinen anfälliger für fiktive Erinnerungen zu werden, wie die Londoner Studie zeigt. Darin berichteten ältere Teilnehmer eher fiktive Erinnerungen als junge.

Falsche Erinnerungen können vor Gericht für Verwirrung sorgen

Welche Dynamik das Suggerieren von Erinnerungen entfalten kann, zeigte der Montessori-Prozess in Münster. Darin wurde Anfang der 1990er Jahre ein Kindergarten-Erzieher beschuldigt, mehr als 60 Kinder in Hunderten Fällen missbraucht zu haben.

Zunächst hatte ein Junge eine zweideutige Andeutung gemacht, daraufhin wurden die übrigen Kinder durch Suggestivfragen wochenlang geradezu gedrängt, sich an Missbrauchshandlungen durch den bis dahin völlig unbescholtenen Mitarbeiter zu erinnern - und erzählten tatsächlich immer neue Ungeheuerlichkeiten.

Freigesprochen wurde der Angeklagte erst nach mehr als zwei Jahren Untersuchungshaft. Dazu trug nicht zuletzt ein Gutachten bei, in dem der Rechtspsychologe Günter Köhnken von der Universität Kiel feststellte, unter welch fragwürdigen Umständen die belastenden Aussagen zustande gekommen waren.

Dass in den USA fehlerhafte Erinnerungen ein wichtiger Grund für Fehlurteile sind, zeigt das Innocence Project. Die Organisation, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht, hat überwiegend durch DNA-Analysen mehr als 350 nachträgliche Freisprüche von bereits verurteilten Menschen erreicht.

Über 70 Prozent dieser Fehlurteile beruhten auf falschen Identifizierungen mutmasslicher Täter durch Augenzeugen, wie die Organisation auf ihrer Website berichtet.

Aber wie lässt sich die Aussage eines Zeugen bewerten?

Ein klares Kriterium, das die Glaubwürdigkeit einer Erinnerung anzeigt, gibt es nicht. Allenfalls Indizien: Falsche Erinnerungen tauchten meist nicht plötzlich auf, sagt Köhnken. "Die Entstehung von falschen Erinnerungen ist typischerweise ein längerer Prozess. Wenn man wiederholt mutmassliche Ereignisse visualisiert, wächst in zunehmendem Masse die Überzeugung, dass es so gewesen sein muss."

Wird der Psychologe als Gutachter hinzugezogen, gibt es meist schon Zweifel an einer Aussage. Bei der Analyse des Falles wertet er zunächst die Akten aus und analysiert die inhaltliche Qualität einer Aussage.

Wichtig ist ausserdem die Frage, wie es zu der Aussage kam. Entstand sie spontan? Oder erst im Lauf mehrfacher Befragungen? "Dann gehen die Alarmglocken an", sagt Köhnken.

Weitere Aspekte: Gab es bei der Vernehmung Suggestivfragen? Welche Persönlichkeit hat ein Mensch? Möchte jemand gerne im Mittelpunkt stehen? Wie waren die Umstände eines Ereignisses? War der Zeuge abgelenkt? Stand er unter Stress? Wie lange liegt der Vorfall zurück?

Gewöhnlich spricht Köhnken mit dem Zeugen über die fraglichen Ereignisse. Erst wenn er alle alternativen Erklärungen ausschliessen kann, stuft der Gutachter eine Aussage als wahrscheinlich erlebnisbegründet ein.

Je nach Vorinformation erinnerten die Teilnehmer unterschiedliche Details

Deborah Felicitas Hellmann zeigte vor einigen Jahren an der Universität Osnabrück in einer Studie, dass sogar ein unterstelltes Tatmotiv die Erinnerung von Augenzeugen verzerren kann. Darin sahen 208 Teilnehmer zunächst eine tonlose Filmsequenz, in der eine Frau vier Männer tötet.

Ein Teil der Probanden bekam die Information, die Frau habe die Morde kaltblütig aus Hass begangen, die anderen dachten, sie habe aus Notwehr gehandelt. Je nach Vorinformation erinnerten die Teilnehmer unterschiedliche - und oft erfundene - Details, wie die Forscher im Fachblatt "Psycholgy, Crime and Law" schrieben.

Gingen sie von einer Tat aus Verzweiflung aus, nannten sie entlastende Umstände - etwa die Frau sei mit einem Messer angegriffen worden. "Erinnerungen sind soziale Konstrukte", sagt Hellmann. "Auch Vorurteile, etwa gegen Flüchtlinge, können eine entscheidende Rolle für das Einfärben von Erinnerungen spielen."


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